Die Luft ist kühl

Die Luft ist kühl und es dunkelt

Ein Rheinbuch


Ich bin in Boppard am Rhein geboren und habe viele Jahre in Lahnstein gelebt (wo die Lahn in den Rhein fließt) unweit von Koblenz (wo am Deutschen Eck die Mosel in den Rhein mündet). Heute lebe ich in Flörsheim am Main. Flüsse haben in meinem Leben immer eine wichtige Rolle gespielt, besonders der Rhein. Es ist also nicht verwunderlich, dass ich irgendwann diesem Thema ein Buch gewidmet habe. Es wurde meine, bis dahin, umfangreichste und aufwendigste Arbeit. Als das Rheinbuch 1992 fertig war, hatte ich fast zwei Jahre daran gearbeitet, von den ersten Textrecherchen in diversen Bibliotheken bis zur zeitaufwendigen Herstellung. Von Anfang an hatte ich mir vorgenommen, alle Texte nur nach ihren Originalausgaben (möglichst den Erstausgaben) zu zitieren und als Quelle keine der unzähligen Rheinanthologien zu verwenden. Das sollte auch fremdsprachige Texte einbeziehen, die ich, von einigen Ausnahmen abgesehen, in ihrer Originalversion übernommen habe. Das Buch hat elf Kapitel, jedes behandelt einen anderen Aspekt der Rhein- bzw. Flussthematik. Am Anfang der Kapitel steht jeweils eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die eine ganze Doppelseite einnimmt und auf die auch die Kapitelüberschrift gedruckt ist. Es gibt reine Textkapitel und illustrierte Kapitel. Durch das ganze Buch läuft eine blaue Linie als Symbol für den Fluss. Sie sieht in den einzelnen Kapiteln sehr unterschiedlich aus, ist typografisches Element in den Textkapiteln, dann wieder expressives Bildelement im Kapitel Nuit Rhénane, in dem ihr Blau den ganzen Raum der Doppelseiten einnimmt und für den nächtlichen Fluss und den Himmel über den dunklen Hügeln steht. Im Kapitel Nun schwammen wir in die Gebürge steht eine gewellte Azureelinie für den Fluss, der sich durch das enge Mittelrheintal schlängelt. Im Kapitel Fest steht und treu, das sich mit den nachbarlichen Verhältnissen von Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert beschäftigt, verschwindet die Linie völlig. Übrig bleibt nur ein leerer Raum zwischen den polemischen, jeweils in den Nationalfarben gedruckten, Texten von Nicolaus Becker und Alfred de Musset, die sich hüben und drüben des Rheins unversöhnlich gegenüberstehen. Im nächsten Kapitel, Die Überfahrt, ist der Fluss in Form einer 4-Punkt-Linie wieder vorhanden und stellt kein Hindernis für die Textblöcke dar, die von verschiedenen Flussüberquerungen erzählen. Am Ende, nach dem letzten Kapitel, nach umfangreichem Inhaltsverzeichnis und Impressum, mündet die blaue Linie ins blaue Vorsatzpapier. Bei der Auswahl der Texte hatte ich eine Art Collage im Kopf, die unter anderem Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Texten zeigen sollte. Man sollte die Texte aus unterschiedlichen Quellen möglichst als zusammenhängenden Text lesen (zumindest innerhalb eines Kapitels), weshalb es auch in den Kapiteln selbst keine Hinweise auf Autoren und Quellen gibt. Es gibt sie aber ausführlich am Ende des Buches, im Inhaltsverzeichnis. Ich versuche das an zwei Beispielen zu verdeutlichen. Im ersten Kapitel Stadt Land Fluß sind die Texte geografisch geordnet, das heißt sie folgen dem Flusslauf. Das Kapitel beginnt in der Schweiz und endet in Holland. Die beiden ersten Texte beschreiben zwar nicht direkt den Schweizer Rhein, stammen aber von den Schweizern Gottfried Keller und Urs Widmer. Widmer beschreibt in seinen Schweizer Geschichten einen Ballonflug von Frankfurt nach Zürich via Basel: Alle drei schauen wir auf die Landschaft unter uns. Ein glitzernder Fluß fließt in der Ebene. Links von uns, in Fahrtrichtung, liegt ein waldiges Hügelgebirge, rechts, in der Ferne, ein zweites. »Das muß der Rhein sein, oder?« frage ich.. Aber der Pilot kommt aus Manchester, er war zwar bei der Royal Air Force, aber er kennt nur die Nato-Flugplätze zwischen Schottland und Spitzbergen. Die dicke Frau kann sowieso Helsinki nicht von Palermo unterscheiden. »Es ist der Rhein,« sage ich. »Im übrigen, mir ist es egal.« Es folgt Gottfried Keller mit seinen Rheinbildern: Mit dem grauen Felsensaal / Und den der Hand voll Eichen / Kann das ruhevolle Thal / Hundert andern gleichen. Etwa hundert Jahre vor Urs Widmers Text hat Gottfried Keller das Gedicht geschrieben. Beide zusammen passten zu meinen ambivalenten Heimatgefühlen und schienen mir ein guter, etwas distanzierter Einstieg ins Rheinbuch. Das zweite Beispiel ist aus dem Kapitel Nuit Rhénane. Clemens Brentanos Gedicht aus den Rheinmährchen, geschrieben um 1812: Himmel oben, Himmel unten / Stern und Mond in Wellen lacht / Und in Traum und Lust gewunden / Spiegelt sich die fromme Nacht, und Wolfgang Borcherts Text von 1949, Die Elbe:  Oben liegt der Himmel und da liegen die Sterne drin. Darunter liegt die Elbe. Und da liegen auch Sterne drin. Dieselben Sterne, die im Himmel liegen, liegen auch in der Elbe. Vielleicht sind wir gar nicht so weit ab vom Himmel. Wir in Blankenese. Wir in Barmbek, in Bremen, in Bristol, Boston und Brooklyn.  Beide beschreiben die gleiche Stimmung. Ob am Rhein oder an der Elbe oder am Mississippi, die Gefühle gleichen sich. Das Einbeziehen anderer Orte und anderer Flüsse spielt auch im Rheinbuch eine Rolle. Huckleberry Finns Mississippi zum Beispiel im selben Kapitel: The river looked miles and miles across. The moon was so bright I could a counted the drift logs that went a slipping along, black and still, hundreds of yards out from shore. – Mit dem Rheinbuch machte ich eine interessante Erfahrung in der Buchkunstszene. Als das Buch fertig war, konnte ich es in einer Reihe von Ausstellungen entlang des Rheins präsentieren, die alle Originalseiten des Buchs als fortlaufendes Band ausgebreitet an den Wänden zeigten. In der Regel ist das Ausstellen von Büchern immer wieder eine Herausforderung, denn man kann ein Buch, von dem man nur ein Exemplar hat, entweder von außen zeigen oder präsentiert eine aufgeschlagene Doppelseite. Vom Rheinbuch hatte ich aber so viele zusätzliche Bögen gedruckt, dass die ungewöhnliche Präsentation aller 240 Seiten möglich war. 


240 Seiten, Werkdruckpapier, Handsatz und Buchdruck, Leinenband mit Titelschildchen, 16 x 24,5 cm,

100 nummerierte und signierte Exemplare. Lahnstein 1992.



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