Stopfnadel

Hans Christian Andersen, Die Stopfnadel


Wie oft in Andersens Märchen stehen auch in Die Stopfnadel Erlebnisse von alltäglichen Gegenständen parabelhaft für menschliches Verhalten. Zur Illustration der Geschichte verwendete ich Dinge aus meiner Buchdruck-Werkstatt: Satzmaterial, Zink-Klischees, Messinglinien, Draht, Linolschnitte. Hinzu kamen diverse Collagematerialien, Fundstücke, z. B. aus Modekatalogen, aber auch ein Stückchen original Frankfurter Postzeitung, erschienen 1852 (also noch zu Lebzeiten von Andersen). Für die Stopfnadel selbst, die auf allen Seiten auftaucht, benutzte ich eine sogenannte englische Linie (eine Linie, die an beiden Enden spitz ausläuft). Sie wird bereits auf dem Vorsatzpapier vorgestellt und mit blauen Klammern aus der Masse vieler gleicher Stopfnadeln herausgehoben. Auf der Vorderseite des Einbandes erscheint sie als Originalnadel. Als die Stopfnadel beim Flicken eines alten Pantoffels abbricht, ist ihre Karriere als Stopfnadel beendet. Das Küchenmädchen steckt sie an ihre Schürze. Jetzt glaubt sie, als Busennadel etwas ganz Besonderes zu sein. Aber sie fällt in den Ausguss und wird mit dem Spülwasser in den Rinnstein geschwemmt. Auf Seite 14 sieht man das trudelnde unfreiwillige Fallen. Der Sturz endet im Rinnstein, und dort lernt die Stopfnadel allerhand "Persönlichkeiten" kennen. Zum Beispiel eine Flaschenscherbe, die sie für einen Diamanten hält. Die Stopfnadel erzählt der Scherbe ihr Leben, berichtet von den fünf Fingern, die nur dazu da waren, sie zu halten. Sie stellt die einzelnen Finger vor: Der Däumling, der aus der Reihe tanzt und nur ein Gelenk im Rücken hat.

Der Schlecker, der sich in Süßem und Saurem herumtreibt und nach Sonne und Mond zeigt (oder auf die Seitenzahl). Langermann, der den andern über die Köpfe weg sieht. Goldfinger mit einem goldenen Ring um den Bauch und der Allerkleinste, der gar nichts tut und darauf noch stolz ist. Die Stopfnadel kommt auch auf ihren Abgang durch das Spülbecken zu sprechen. (Wir erinnern uns an den unfreiwilligen trudelnden Sturz auf Seite 14.) In ihrer Erzählung idealisiert sie den Sturz, in der Illustration wird daraus ein perfekter Kopfsprung ins umgedrehte A des Ausgusses. "Prahlerei war es, und Prahlerei blieb es, und deshalb sprang ich in den Ausguß!", sagt die Stopfnadel. Wir können, wenn wir wollen, zurück blättern und uns auf Seite 14 noch einmal den unfreiwilligen Sturz vor Augen führen. Einen wichtigen Aspekt des Buches möchte ich nicht unerwähnt lassen: die Schrift. Ernst Schneidlers Legende (entworfen in den 30er-Jahren) spielte in der Buchkunstszene der 80er-Jahre (in Deutschland zumindest) kaum eine Rolle. Obwohl ich sie in verschiedenen Größen mit dem Bestand der Lahnsteiner Druckerei übernommen hatte, konnte auch ich bis dahin nichts mit ihr anfangen. Solche Schreibschriften waren einem suspekt, man hatte sie zu oft in dubiosem Zusammenhang gesehen. Aber für Die Stopfnadel wurde sie dann doch die Schrift, die infrage kam.

 

48 Seiten, graues Büttenpapier, Handsatz und Buchdruck, Leinenband mit eingebetteter Originalnadel, 15 x 23 cm,

135 nummerierte und signierte Exemplare. Lahnstein 1985.



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